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Von der Vorhölle Arbeit bis zum Himmelreich Pension

Weil das Fundament des Pensionssystems bröckelt, sollen die Leute später in den Ruhestand gehen - soweit die Theorie - Doch die gelebte Praxis zeigt: In Österreich käme dies einer Revolution gleich

Selbst der Kardinal hat den Glauben verloren. Sorgenvoll warnte Christoph Schönborn in seiner Osterbotschaft vor dem Kollaps der Altersversorgung. "Mit 58 in Pension gehen, das geht nicht", mahnte der Erzbischof: "Es wird nicht anders gehen, als dass wir länger arbeiten."

Viel Protest erntete er nicht. Ein Gewerkschafter aus der zweiten Reihe ereiferte sich über den "unpassenden" Exkurs bei einem "Friedensfest". Doch abgesehen davon sickert die von Schönborn ausgesprochene Binsenweisheit allmählich selbst in die Köpfe der bockigsten Frühpensionsfetischisten. In einer Debatte, wo Seniorenvertreter und Pensionsgurus, Sozialpartner und Politiker Glaubenskämpfe um ein paar Prozentpunkte auf oder ab in demografischen Prognosen führen, ein beträchtlicher Fortschritt.

Das Offensichtliche lässt sich eben schwer leugnen. Mit 59 beziehungsweise 57 Jahren treten Männer und Frauen so früh in den Ruhestand, wie in kaum einem anderen Land. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung um zwei bis drei Jahre pro Dekade. Österreichs Senioren verbringen nicht nur immer mehr Zeit in Pension, ihre Zahl wächst auch rasant: Statt derzeit 1,47 Millionen werden 2050 bereits 2,56 Millionen Menschen über 65 sein.

Dafür wird die Zahl der Leute im erwerbsfähigen Alter ab dem nächsten Jahrzehnt sinken. Ihre Sozialversicherungsbeiträge reichen jetzt schon nicht mehr aus, um die Renten der Alten zu bezahlen. Jahr für Jahr muss der Staat mehr Steuergeld ins Pensionssystem zuschießen: Laut Prognose der Pensionskommission droht der Aufwand von aktuell 3,1 Prozent auf 6,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2045 anzuschwellen - ergo von 8,6 auf 30 Milliarden Euro. Selbst wenn man, wie Sozialminister Rudolf Hundstorfer, erwartete Einsparungen bei den Beamtenpensionen gegenrechnet, bleibt ein dickes Plus.

Die angepeilte Lösung klingt simpel: das gesetzliche Pensionsalter von 65 (Männer) und 60 (Frauen) ernst nehmen. Doch wie lässt sich dieses Wunder in einem Staat vollbringen, wo - wie der Sozialrechtler Wolfgang Mazal spottet - das Arbeitsleben "als Vorhölle zum Pensionshimmel" empfunden wird? Und warum gilt Ruhestand gerade hierzulande, wie Pensionsversicherungsdirektor Winfried Pinggera meint, als "Ideal der Glückseligkeit"?

Anfang der Siebziger arbeiteten die Österreicher noch weit über die Sechzig hinaus. Doch dann erschütterten Ölschock und Verstaatlichtenkrise die Industrie - und die Regierung suchte ein Mittel, um die Arbeitslosenrate niedrig zu halten. Für den Einzelnen ist die Frühpension wohl das verträglichere Übel; für den Staat jedoch das teurere.

Die Politik wurde die Geister, die sie rief, nicht mehr los. Auch Arbeitnehmer mit sicheren Jobs, die in den Aufschwungsjahren die nötigen Versicherungszeiten gesammelt hatten, nützten die geschaffenen Abkürzungen aufs Altenteil. Als der demografische Umschwung explodierende Kosten ankündigte, tasteten sich Regierende an Reformen heran. Doch mit der betagten Wählerschaft wuchs auch der Druck ihrer Lobbys. Wurde eine Hintertür geschlossen, ging eine neue auf.

Für einen archetypischen Sündenfall halten Kritiker die sogenannte "Hacklerregelung", die das Generalziel der schwarz-blauen Pensionsreform von 2005 - eben ein höheres Antrittsalter - hintertreibt. Dieses Ausfallstor, das die Koalition vor der letzten Nationalratswahl noch einmal weiter aufgerissen hat, erlaubt Arbeitnehmern mit vielen Versicherungsjahren die Frühpension, ohne dass das Gros finanzielle Einbußen hinnehmen muss. Überwiegend Angestellte sind es, die aus sicheren, gut bezahlten und anspruchsvollen Jobs hinausgelockt werden. Abgesehen von jährlichen Kosten in dreistelliger Millionenhöhe eine, wie der Pensionsexperte Bernd Marin meint, "maßlose Vergeudung von Humanressourcen", die in einer Wissensgesellschaft "wie ein alter Rotwein" gehütet werden sollten.

Doch nicht alle Betroffenen erfüllen das Klischee des fidelen Frühpensionisten. Ein Drittel aller Neorentner eines Jahres geht in Invaliditätspension - Männer im Schnitt mit 53, Frauen mit 49. Wiewohl Wirtschaftsvertreter auch hier von einem "Schlupfloch" sprechen, klingen die Umstände nicht paradiesisch: Invalide Männer und Frauen leben von 1077 bzw. 699 Euro und sterben zehn Jahre früher als Normalpensionisten.

Alois Guger hält das Bild des freizeitverliebten Werktätigen, der sehnsüchtig die Tage bis zur Pension zählt, daher für einseitig. "Da wird zu viel auf die Arbeitnehmer geschoben", sagt der Wirtschaftsforscher, "die Unternehmen machen es sich oft sehr leicht". Statt älteren und teureren Beschäftigten Weiterbildung zu ermöglichen, rekrutierten Firmen lieber Nachwuchs am Arbeitsmarkt - besonders in Umbruchzeiten wie der digitalen Revolution eine bequeme Lösung. Laut einer EU-weiten Untersuchung ist Altersdiskriminierung in heimischen Unternehmen überdurchschnittlich verbreitet. Vor allem wer gesundheitlich angeschlagen ist, laufe Gefahr, gekündigt zu werden, sagt Guger.

Eine "stille Komplizenschaft" wittert Bernd Marin: "Betriebe sanieren sich gerne, indem sie ältere Kräfte loswerden. Statt auf die Barrikaden zu steigen, handeln Betriebsräte in Eintracht mit den Personalchefs Sozialpläne aus." Nach Überzeugungsarbeit von beiden Seiten würden die Arbeitnehmer meist freiwillig zustimmen: "Dass sich der goldene Handshake mitunter als blechern entpuppt, merkt man ja erst beim Nachrechnen."

Allerdings könnte blankes Eigeninteresse die Firmen zwingen, die Philosophie zu ändern: Denn während die Babyboom-Generation in den vergangen Jahren noch für ein Riesenreservoir junger Kräfte gesorgt hat, setzt nun Facharbeitermangel ein.

Die Regierung will beim Umdenken nachhelfen. Dem Expertenwunsch nach Abschaffung der Hacklerregelung kam sie teilweise nach, Hauptreformziel sind nun die Invaliditätspensionen, die das Antrittsalter besonders drücken. Weitere Bausteine: Höhere Anfangsgehälter, dafür weniger Lohnsteigerung bis ins Alter, um Kündigungen vorzubeugen. Ausbau der Kinderbetreuung, spürbare Zuwanderung, um mehr Beitragszahler in Jobs zu bringen. Und eine humanere Berufswelt, wie sie dem Sozialforscher Mazal vorschwebt - von den Arbeitszeiten bis zur Weiterbildung: "Ehe eine Krankenschwester ausbrennt, muss sie die Chance haben, etwas Neues zu beginnen."

Wie stark das Antrittsalter letztlich steigen muss? Die Latte reicht von einem Jahr pro Dekade (Hundstorfer) bis zu einem Vielfachen, von dem Marin spricht: "2050 muss es bei 68 bis 70 Jahren liegen. Da nehme ich jede Wette an."

Auf die Alternative gebe die aktuelle Politik bereits einen Vorgeschmack, sagt Ulrich Schuh vom Institut für Höhere Studien: Wenig Geld für Schulen oder Unis, dafür plötzliche Rentenkürzungen, wenn die Regierung klamm ist. Dass etwa im ersten Pensionsjahr neuerdings kein Teuerungsausgleich bezahlt wird, koste Durchschnittspensionisten 3000 Euro - und sei viel unfairer als kalkulierbare Reformen: "Das ist wie Pensionsroulette."

(Quelle: Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe, 17.5.2011)

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