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Soziales Netz im Wandel

Das soziale Netz in Österreich ist engmaschig - Aber sind die Maschen immer an den richtigen Stellen gesetzt? Die Arbeits- und Wirtschaftswelt hat sich jedenfalls deutlich stärker gewandelt als der Sozialstaat

Leicht hat er es nicht, der österreichische Sozialstaat. Die wenigsten sind 100-prozentig glücklich mit ihm. Diejenigen, die wenig Leistungen brauchen, haben das Gefühl, zu viel zu zahlen. Und diejenigen, die ohne ihn nicht überleben könnten, wünschen sich mehr Unterstützung. Egal, auf welcher Seite man steht, eines lässt sich nicht leugnen: Österreich gibt eine Menge Geld für den Sozialbereich aus.

2009 waren es 84 Milliarden Euro, geht es aus dem jüngsten Sozialbericht hervor. Das sind 30,7 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung (BIP). Verändert hat sich in den vergangenen 15 Jahren die Gewichtung: überdurchschnittlich gewachsen sind die Ausgaben für Pensionen. Deshalb wird der Standard diesem Bereich einen eigenen Reform-Agenda-Schwerpunkt widmen, ebenso dem Gesundheitssektor.

Wer das Gefühl hat, dass der Staat früher viel großzügiger war, täuscht sich: 1960 lag die Sozialquote bei nur 17,2 Prozent des BIPs. Dennoch schwimmen im Wohlfahrtsstaat Österreich nicht alle im Wohlstand. Über die Jahrzehnte hat sich nämlich auch die Arbeitswelt extrem gewandelt. Der männliche Ernährerhaushalt verliert an Bedeutung, immer mehr Frauen strömen auf den Arbeitsmarkt. Sind aber erst einmal Kinder da, können viele von einer Vollzeitstelle nur noch träumen. Bereits mehr als eine Million Menschen arbeitet Teilzeit, mehr als 80 Prozent davon sind Frauen. Dazu kommen Trends wie freie Dienstverträge, neue Selbstständige oder geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.

In Neudeutsch spricht man dann von "working poor" , also von Menschen, die zwar Arbeit haben, aber nicht davon leben können. 2009 gab es laut Statistik Austria 241.000 Erwerbstätige, deren Einkommen so niedrig war, dass sie als armutsgefährdet einzustufen sind. 117.000 davon hatten sogar eine Vollzeitstelle. So viel also zu den Politikerparolen, wonach ein Mindestlohn von 1000 Euro quasi in allen Bereichen umgesetzt sei.

Nicht ganz unumstritten ist, wie die "Armutsgefahr" berechnet wird. Laut europäischer Definition lag die Grenze in Österreich 2009 bei 994 Euro im Monat. Berücksichtigt man alle Bevölkerungsgruppen, sind rund eine Million armutsgefährdet - ein Wert, der seit Jahren in etwa gleich hoch ist.

Für den Staat bedeutet die neue Wirtschaftswelt natürlich wieder höhere Ausgaben. Die Zahl der Sozialhilfebezieher ist seit 1998 um 70 Prozent gestiegen. Ohne Unterstützung hätten 2008 rund 161.000 Personen nicht ihre Lebenserhaltungskosten decken können. Dazu kamen weitere 64.000 Sozialhilfebezieher in Pflegeheimen. Wer unter welchen Voraussetzungen wie viel bekam, war aber in jedem Bundesland unterschiedlich. Eine gewisse Vereinheitlichung bringt die neue Mindestsicherung, wirklich effizient ist das neue System allerdings auch nicht.

Bei so viel Geld, das im Spiel ist, stellt sich natürlich die Frage nach der Effektivität. Die Regierung erhofft sich einen besseren Überblick durch die Transparenzdatenbank. Vorerst ist aber unklar, ob auch Länder und Gemeinden dabei mitmachen. "Wenn das nicht der Fall ist, kann ich keinen Fortschritt erkennen" , sagt Wifo-Fachmann Hans Pitlik. Und: "Ich glaube auch gar nicht, dass Doppelförderungen das wirkliche Problem sind, es ist vielmehr das Gesamtvolumen aller Einzelförderungen."

Nimmt man jedenfalls die Geburtenzahlen als Maßstab, sind die Familienförderungen (im Vorjahr 6,4 Mrd. Euro) alles andere als effektiv. In kaum einem Land bekommen Frauen weniger Kinder als hierzulande (1,39). Dabei wurden in den letzten Jahrzehnten regelmäßig neue Familienleistungen erfunden. Bezahlt werden sollten diese eigentlich über den Familienlastenausgleichsfonds (Flaf). De facto reicht der aber seit langem nicht mehr aus. Er ist aktuell mit 3,7 Mrd. Euro im Minus, trotz jüngsten Sparpakets (auch bei der Familienbeihilfe) steigt das Defizit kurzfristig sogar auf vier Milliarden an.

Das Grundproblem dahinter:Die Einnahmen hängen zum Großteil (zu 84 Prozent) von den Löhnen der Arbeitnehmer ab. Läuft die Wirtschaft schlecht, gibt es also weniger Geld. Dasselbe Dilemma herrscht in der Sozial-, Arbeitslosen- und Pensionsversicherung. Deshalb startet die Gewerkschaft auch einen neuen Anlauf in Richtung Wertschöpfungsabgabe. Auch auf Gewinne, Mieten oder Leasingraten will man Beiträge einheben.

Eine andere Möglichkeit wäre, die Geldleistungen drastisch zu kürzen und stattdessen in Sachleistungen, also vor allem Kinderbetreuungsplätze, zu investieren. Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP) hat sich noch im November für eine "Kehrtwende" in diese Richtung ausgesprochen. Nach massivem Aufschrei von Familienvertretern, einer für die ÖVP nicht unwichtigen Klientel, ist davon keine Rede mehr. Im Streitgespräch mit dem Politologen Emmerich Tálos (Seite 11) spricht er nun von einer "langsamen Verschiebung des Gewichts" .

Dabei sind Geldleistungen im Sozialstaat Österreich deutlich stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Hierzulande machen sie laut Eurostat 71 Prozent aller Sozialleistungen aus, in Schweden sind es nur 59 Prozent, in Dänemark 61 Prozent.

Auf der anderen Seite waren stark ausgeprägte Sozialsysteme während der Wirtschaftskrise durchaus ein Vorteil, wie eine aktuelle Wifo-Studie zeigt. Das BIP nahm in Österreich durch sozialpolitische Maßnahmen um ein Prozent zu. Generell zeigte sich für die EU"eine deutlich höhere Stabilisierungswirkung als für die USA" . Die Wifo-Experten plädieren sogar dafür, Arbeitslosengeld und Mindestsicherung automatisch zu erhöhen, wenn die Arbeitslosigkeit steigt. Dänemark praktiziert bereits ein ähnliches Modell.

In der Praxis ist es aber schwierig, nach einer Krise die Ausgaben wieder zu senken. Österreich weist eine der "dramatischsten" Verschlechterungen bei der "Nachhaltigkeitslücke" aus, sagt der Sozialwissenschafter Bernd Marin. Vor der Krise fehlten nur 0,3 Prozent der Wirtschaftsleistung für ein langfristig nachhaltiges Budget. 2009 waren es schon 4,8 Prozent. Die Finanzmärkte würde aber genau auf diese relativen Verschlechterungen schauen, warnt Marin. Entscheidend nachteilig für Österreich sei die "chronische Unterfinanzierung" der Pensionsansprüche bzw. der subjektiv wahrgenommene Pflegenotstands -"bei einer der großzügigsten Pflegegeldregelungen weltweit" , so Marin. Es wird also nicht leichter für den österreichischen Sozialstaat.

(Quelle: DER STANDARD; Printausgabe, 12.4.2011)

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