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Länger arbeiten – oder verarmen

Ohne Einschnitte bedroht die Alterung der Gesellschaft den heutigen Lebensstandard. Was zu tun ist, war Hauptthema des dritten Sommerdiskurses der Uni Wien in Strobl am Wolfgangsee.

Strobl. Zeitgleich mit der Klimaerwärmung und der Wirtschaftskrise findet in Österreich eine eher unauffällige Veränderung statt: die Alterung der Gesellschaft. Die Auswirkungen dieses Trends sind aber umso gravierender. Während mehrere Generationen der Babyboomer in Pension gehen, fehlt der nötige Nachwuchs am Arbeitsmarkt, und die Schwierigkeiten bei der Finanzierung von Pensionen steigen.

Was bedeutet das für jeden von uns? Wie wird der Alltag hierzulande in den nächsten Jahrzehnten aussehen, und wie sollen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf die aufkommenden Probleme reagieren? Den Antworten auf diese Fragen widmete sich der dritte Sommerdiskurs der Uni Wien in Strobl am Wolfgangsee. Obwohl die Meinungen der Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker auseinandergehen, waren sich alle in einem Punkt einig: Ohne einschneidende Veränderungen wird man den heutigen Lebensstandard bald nicht mehr aufrechterhalten können.

Ein Tag mit 30 Stunden

Warum das so ist, skizzierte Rainer Münz mit einigen demografischen Daten. Münz war Berater von OECD und Weltbank und arbeitet heute für die Erste Group und das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut. Ihm zufolge müssen Statistiker seit Jahrzehnten ihre Daten zur Lebenserwartung nach oben korrigieren, der Wert betrage derzeit weltweit 93 Jahre. Das Problem: „Bis heute gehen alle Prognosen davon aus, dass der Anstieg wieder abflacht, aber das Gegenteil ist der Fall. Statistisch ist es viel wahrscheinlicher, dass die Lebenserwartung weiter steigt“, so Münz. Der statistische Zuwachs betrage in den westlichen Staaten rund 180 Tage pro Jahr. Münz überspitzt das in der folgenden Modellrechnung: „Zu den 24 Stunden eines Tages kommen wegen der ständig steigenden Lebenserwartung sechs weitere dazu. Ihr Tag hat also eigentlich 30 Stunden.“ Auf der anderen Seite sinken die Geburtsraten. In Europa liegt der Wert nur noch in Skandinavien, Frankreich, Großbritannien und in moslemisch geprägten Regionen bei über zwei Kindern pro Frau, während er in Mittel-, Ost- und Südeuropa sinkt.

Die Konsequenz: 2050 wird hierzulande jeder Zweite älter sein als 50. „Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass wir wissen, wie eine solche Gesellschaft aussieht“, so Münz. Während der Arbeitsmarkt der EU heute 238 Millionen Menschen umfasst, würden ihm ohne Veränderungen 2050 rund 170 Millionen Menschen zur Verfügung stehen. Dagegen wird dann allein in Österreich die Zahl der Pflegefälle um 90 Prozent steigen. Heutige Sozialsysteme wären damit fast unbezahlbar – wenn man nichts tut.

Mehr Zuwanderer, weniger Geld

Die heutige Situation sei mit weniger Älteren und Kindern günstiger, statt aber damit Überschüsse zu erwirtschaften, würden EU-Staaten Milliarden an Schulden anhäufen. Der Arbeitsrechtler Wolfgang Mazal plädierte dafür, diese strukturellen Defizite rasch abzubauen, um sich für die Zukunft zu wappnen.

Teile der Lösung wären laut Münz ein späteres Pensionsantrittsalter, eine höhere Frauenerwerbsquote, Förderungen zur Erhöhung der Geburtenrate sowie mehr und deutlich höher qualifizierte Migranten. „Wenn ich Politiker wäre, müsste ich Ihnen sagen: Wählen Sie mich, dann müssen Sie länger arbeiten, bekommen weniger Geld und mehr Einwanderer. Aber das wäre die Wahrheit.“

Der WKÖ-Sozialexperte Martin Gleitsmann äußerte die Sorge, dass Österreich bei Akademikerquoten unter Zuwanderern die schlechtesten Werte aller OECD-Länder aufweise. Auch der Pflegebereich gehöre dringend reformiert: Derzeit funktioniere er sehr gut dank der 20.000 Osteuropäerinnen, die in diesem Bereich arbeiten. Aber das sei eine Zeitbombe, so Gleitsmann. „Die Frage ist, wie lange sie noch kommen.“ Dazu plädierte Gleitsmann für eine deutliche Anhebung des Pensionsantrittsalters im öffentlichen Dienst. „Wenn der öffentliche Dienst das Pensionsantrittsalter heraufsetzt, glaube ich nicht, dass heimische Unternehmen nicht mitziehen.“

„Die Sozialsysteme sind robust“

Dem gegenüber betonte Josef Wöss von der Arbeiterkammer die Verantwortung der Arbeitgeber, mehr Teilzeitjobs und solche für Jüngere und Ältere zu bieten. „Schaut man nur auf die Geburtsraten und Anteile der Erwerbsfähigen, dann müsste heute Algerien ein wahres Wirtschaftswunder erleben. Aber entscheidend ist, was Menschen im Erwerbsleben machen können.“ Zugleich betonte Wöss, dass die erwähnten Reformen „machbar“ seien. Nicht nur die Lebenserwartung, auch die „Robustheit der heimischen Sozialsysteme wird chronisch unterschätzt. Seit es den Sozialstaat gibt, wurden die Sozialsysteme immer wieder totgesagt. Aber das ist nie eingetreten.“

(Quelle: "Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2010)

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