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Länger arbeiten, kein Problem

Wer einst am Testament schrieb, feilt heute an der Bachelor-Arbeit: Am späteren Pensionsantritt führe nichts vorbei, sagt Forscher Sergei Scherbov

Alternde Gesellschaft

Die Alarmglocken schrillen, und sie schrillen so beständig, dass niemand sie mehr hört: So beschreiben ÖkonomInnen regelmäßig ihr Dilemma, wenn es um das Altern der Bevölkerung geht. Die Warnung vor dem Kollaps kehrt seit Jahren immer wieder – und niemand hört zu. Einer, der zuhört, aber dennoch widerspricht, ist Bevölkerungswissenschafter Sergei Scherbov.

Die Geschichte vom drastischen Altern der westlichen Gesellschaften stimme so nicht ganz, meint Scherbov, der mit seinem US-Kollegen Warren C. Sanderson seit längerem an neuen Modellen schmiedet, um den demografischen Wandel abzubilden. Seine Überlegung ist simpel, aber folgenreich: Alter ist nicht mehr Alter.

Weißhaarig im Hörsaal

"Eine 54-jährige Engländerin hat heute noch genauso viele Jahre zu leben wie eine 40-jährige Engländerin im Jahr 1900“, erklärt Scherbov im Gespräch mit derStandard.at. „Viele unserer Entscheidungen hängen aber von unserer Erwartung ab, wie lange wir noch leben“: 55-Jährige im Hörsaal oder 65-Jährige, die ein neues Haus beziehen, seien heute keine Seltenheit mehr – vor 50 Jahren war das noch anders.

Traditionelle Modelle stellen die wachsende Masse an Über-65-Jährigen der sinkenden Anzahl an Unter-65-Jährigen gegenüber, und warnen folglich vor dem Kollaps der Sozialsysteme. Scherbov bezeichnet solche Modelle als veraltet: Nicht das biologische Alter sei relevant, sondern die Tatsache, ob jemand auf fremde Unterstützung angewiesen sei oder nicht. Mit seiner „Adult Disability Dependency Ratio“ stellt er dar, wie sich das Mengenverhältnis zwischen Pflegebedürftigen und Nicht-Pflegebedürftigen aller Altersgruppen in den nächsten 40 Jahren verändern wird. Sein Fazit: Die Relation steigt nur geringfügig an. Im Deutschland des Jahres 2005 beträgt sie 0,12 und steigt bis 2050 auf 0,15. 

Protest "aus Unwissen"

Dass europäische Sozialsysteme dennoch auf das biologische Alter abstellen, und dass weiterhin 66-Jährige zumindest laut Beschäftigungsstatistik zum alten Eisen gezählt werden, ist auch Scherbov bewusst. Er glaubt dennoch, dass sein Modell politische Relevanz hat: Wenn heute der Ruf nach einem höheren Pensionsantrittsalter laut wird, dann hagelt es Protest. „Aber die Leute protestieren nur, weil ihnen nicht bewusst ist, was das bedeutet“, glaubt Scherbov: Als Bismarck 1889 das deutsche Pensionsversicherungs-System einführte, setzte er das Ruhestandsalter bei 70 an. Die Lebenserwartung lag damals bei knapp 44 Jahren (Männer) und knapp 48 Jahren (Frauen).

Heute gehen deutsche Männer mit 65 Jahren in Pension – und haben im Durchschnitt noch 17 Jahre zu leben, die Lebenserwartung bei Geburt liegt bei 77 Jahren.

Wer heute 65 Jahre alt ist, hat im doppelten Sinn mehr vom Ruhestand: Er/sie hat nicht nur mehr Jahre vor sich als eine Person desselben Alters gegen Ende des 19. Jahrhunderts, sondern habe noch dazu viel größere Chancen, diese Jahre in guter Gesundheit zu verbringen. Es weiterhin beim alten Antrittsalter zu belassen, sei also „so, als würde ich ein 150-Dollar-Sakko von 1900 mit einem 150-Dollar-Sakko im Jahr 2011 vergleichen“, meint Scherbov - zumal künftige Generationen noch mit beachtlichen Zuwächsen bei der Lebenserwartung rechnen dürfen. 

30 Jahre in Pension

Die Lebenserwartung mit 65 Jahren werde nämlich noch stärker ansteigen als die Lebenserwartung zum Geburtszeitpunkt, da die Sterblichkeit im hohen Alter weiter abnehmen wird. Prognosen, welchen zufolge österreichische Männer im Jahr 2050 im Durchschnitt 85,5 und Frauen im Schnitt 90,9 Jahre alt werden, hält Scherbov sogar für „konservativ“, also für zu niedrig geschätzt.

Dass ein späterer Pensionsantritt generell für Ablehnung sorgen würde, glaubt Scherbov übrigens nicht: „Viele wären froh, wenn sie länger arbeiten könnten.“ (Maria Sterkl, derStandard.at, 11.1.2011)

Infos

Sergei Scherbov forscht am Vienna Institute of Demography. Gemeinsam mit Warren Sanderson von der Stanford University hat er im September 2009 im Magazin SCIENCE den Beitrag "Remeasuring Ageing" publiziert, in welchem das Forscherteam ihr neues Modell der "Adult Disability Dependency Ratio" vorstellten

(Quelle: derstandard.at, 11. Jänner 2011)

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