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Ein Dschungel mit vielen zarten Pflänzchen

Wer das Gesundheitssystem ändern will, muss auf vorsichtige Reformschritte setzen, denn die Verhandlungspartner sind schnell vergrämt - Dabei drohen die Kosten zu explodieren - vor allem mangels umfassender Prävention

Man soll ja nicht immer alles schlechtreden, sagen die österreichischen Gesundheitspolitiker, daher sei hier ein positiver Aspekt des Systems angeführt: Wer sich in den Finger schneidet, eine Bauchgrippe hat oder wem ständig der Kopf wehtut, der kann sich jederzeit und überall behandeln lassen. Ob im Spital, beim Hausarzt oder beim Spezialisten, das bleibt ihm überlassen. Diese Barrierefreiheit gibt es längst nicht überall, in einigen europäischen Ländern fungiert der Hausarzt als "Gatekeeper" für das gesamte System.

Die maximale Wahlfreiheit hat aber ihren Preis. Ob sich jemand den Finger im Spital oder beim Arzt verbinden lässt, löst eine völlig andere Kostenkettenreaktion aus. Während der Arzt laut mit der Kasse ausverhandeltem Tarif für die einzelne Behandlung entlohnt wird, zahlen die Länder (und zu einem geringeren Teil die Kassen) viel Geld dafür, dass in den Ambulanzen der Spitäler jederzeit Personal und Geräte zu Verfügung stehen. In der Nacht und an den Wochenenden ist das sinnvoll. Aber würden die Patienten zum Beispiel durch längere Ärzteöffnungszeiten öfter in den niedergelassenen Bereich umgeleitet, könnte man sich im System einiges ersparen.

Es seien Schnittstellenprobleme wie dieses, an denen das österreichische Gesundheitssystem hauptsächlich krankt, sagt Hans-Jörg Schelling, der Vorsitzende des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, der mit seinem Ende letzten Jahres vorgelegten "Masterplan Gesundheit" für einigen Diskussionsstoff gesorgt hat. Ihn stört unter anderem die hohe Zahl an Akutbetten: Sie liegt in Österreich bei 6,1 pro tausend Einwohner - im EU-Durchschnitt sind es 3,4. Krankenhäuser schließen will Schelling aber nicht, vielmehr sollen sie umgewandelt werden - in Pflege- oder Rehabilitationseinrichtungen, Tageskliniken oder Gesundheitszentren. Und bei all diesen Maßnahmen müsse selbstverständlich über die Landesgrenzen hinaus gedacht werden.

Genau daran scheiterten bisher viele Reformanläufe. Über die Spitäler verwalten die Länder tausende Arbeitsplätze und Millionenbudgets - sie sind ein Machtfaktor. Da gleicht es schon einer Sensation, dass es nun ein Papier gibt, in dem die Länder ihre grundsätzliche Zustimmung zu einem bundesweiten Spitalsgesetz geben. Nicht ohne zu vermerken: "Ein föderal organisiertes Gesundheitswesen ist kein Hemmschuh für sinnvolle Reformen, sondern ermöglicht eine kostengünstige und qualitativ hochwertige wohnortnahe Versorgung."

Gleichzeitig bekennen sich die Ländervertreter zu einer "einvernehmlich festzulegenden fixierten Rahmenplanung auf Bundesebene". Das Geld von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherung soll - so ihr Vorschlag - in einem Topf gesammelt und von dort aus verteilt werden. Damit wäre der von Gesundheitsökonomen und -politikern gebetsmühlenartig vorgetragene Reformvorschlag von der Finanzierung aus einer Hand umgesetzt - allerdings würde diese Finanzierung erst recht aus neun verschiedenen Landeskassen erfolgen.

Gleich 22 verschiedene Töpfe gibt es bei den Krankenkassen. Zu den neun Gebietskrankenkassen kommen die Versicherung der Bauern, der Beamten, der Selbstständigen, der Eisenbahner sowie diverse Betriebskrankenkassen. Jede bietet unterschiedliche Leistungen, und das, obwohl jeder Österreicher prozentuell dieselbe Sozialversicherung bezahlt. Die Gebietskrankenkassen galten in den vergangenen Jahren als großes finanzielles Sorgenkind der Gesundheitspolitik, erwirtschaften nun dank Entschuldungspaket aber wieder Überschüsse. Für "versicherungsfremde Leistungen" wie etwa das Wochengeld müssen die Kassen aber weiterhin aufkommen. In einem Gutachten im Auftrag der Wiener Ärztekammer hatte der Verfassungsjurist Heinz Mayer vergangenes Jahr festgestellt, dass dies rechtswidrig und daher einklagbar sei, beim Hauptverband dachte man aber nicht im Traum daran, der Idee der Ärzte Folge zu leisten. Als "unfreundlichen Akt" bezeichnete Schelling die Präsentation des Gutachtens.

Tatsächlich gerieren sich die Akteure bei Reformdiskussionen gern als zarte Pflänzchen, die fürchten, man wolle ihnen ihre Lebensgrundlage entziehen. Wer zu forsch auftritt, gegen den wird rebelliert - diese Erfahrung musste Alois Stögers Vorgängerin im Gesundheitsministerium, Andrea Kdolsky (ÖVP), machen, deretwegen die Ärzte sogar auf die Straße gingen. Stöger agiert deutlich zurückhaltender, was Kritiker bisweilen als Untätigkeit auslegen; eine gemeinsame Spitalsreform würde aber für sein Verhandlungsgeschick sprechen.

Nur 58,8 gesunde Jahre

Insgesamt gibt Österreich 10,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheitssystem aus. Nur 1,8 Prozent davon fließen in Prävention - ein Umstand, den Karl Aiginger, der Leiter des Wirtschaftsforschungsinstitutes (Wifo), anprangert, denn um das Gesundheitssystem finanzierbar zu halten, müssten die Österreicher einen radikalen Turnaround in ihrem Lebenswandel vollziehen. Die Lebenserwartung liegt über dem europäischen Durchschnitt, die Erwartung der gesunden Lebensjahre mit 58,8 Jahren jedoch deutlich darunter (EU-Schnitt: 61,5 Jahre). Im Spitzenfeld liegen dafür jene 22 Jahre, in denen das Leben des durchschnittlichen Österreichers durch Krankheit oder Behinderung eingeschränkt ist.

Verharrt Österreich in seinem Reformstau, dann droht laut Aiginger ein Anstieg der Gesundheitskosten bis 2050 um die Hälfte. Als Präventionsmaßnahme schlägt der Wifo-Chef etwa vor, Versicherten Vorsorgeprogramme vorzuschreiben - ähnlich wie bei Privatversicherungen. Bemerkenswert sei außerdem, dass die Sozialversicherungen laut derzeitiger Gesetzeslage erst in der Prävention aktiv werden dürfen, wenn sie alle ihre kurativen Aufgaben erledigt haben.

Übrigens sind nicht nur die meisten Politiker, sondern auch die Patienten recht zufrieden mit dem Gesundheitssystem. Weil der Zugang einfach ist, weil ihre Behandlungswünsche erfüllt werden - und weil ihnen die meisten Ärzte bei ihrem ungesunden Lebenswandel nichts dreinreden.

(Quelle: STANDARD-Printausgabe, 24.5.2011)

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