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Ein Drittel geht mit 52 und invalid in den Ruhestand

Die Mehrheit nennt psychische Gründe als Ursache - Opfer der modernen Berufswelt? Oder Arbeitsmüde mit Lust auf Frühpension?

Wien - Die Halswirbel zwicken, das Kreuz knirscht. "Ohne Pulverl geht's nicht mehr", sagt Renate S., die für 800 Euro netto für die Gemeinde Wien putzt. Nur im Urlaub ließen die Schmerzen nach. Also will die 53-Jährige die Ausnahme zur Regel machen - und in Invaliditätspension gehen.

Ihr Glück versucht sie an einem Montagmorgen in der Pensionsversicherungsanstalt (PVA). Dem reizlosen Wartesaal sieht man nicht an, dass der Achtzigerjahrebau einst als Beamtenprotzpalast kritisiert wurde, und auch so mancher Klient wirkt mitgenommen. Viele sind mit Röntgenbildern bewaffnet, einige gehen auf Krücken. Es gilt, den Amtsarzt von der eigenen Berufsunfähigkeit zu überzeugen. Renate S. zweifelt, dass ihr das gelingen wird: "Aber einen Versuch ist es wert."

Knapp 30.000 Menschen treten pro Jahr als invalid in den Ruhestand, noch einmal 40.000 Antragssteller blitzen ab. Mit Siechtum allein sei dieser Run nicht zu erklären, meint Ulrich Schuh vom Institut für Höhere Studien: "Warum soll gerade bei uns ab 50 schlagartiger Verfall von Körper und Geist einsetzen?" Auch PVA-Chef Winfried Pinggera sagt: "Bei weitem nicht alle sind so krank, dass sie nicht in einem anderen Beruf arbeiten könnten."

Als invalid gilt, wer mehr als die Hälfte seiner Leistungsfähigkeit eingebüßt hat. Doch der Nachweis ist schwierig. Ein Drittel der Invaliditätspensionisten macht psychische Gründe geltend - dreimal mehr als noch vor 15 Jahren. Objektiv lasse sich schwer messen, sagt der Psychiater und Gutachter Georg Pakesch, "ob die Leute nicht mehr können oder wollen".

"Eine Form des sozialen Missbrauchs" also, wie Schuh vermutet? Es gibt auch eine andere Wahrheit, die von steigendem Arbeitsdruck kündet, von Burnout-Epidemien und dem Stress ständiger Verfügbarkeit. Schon ab 30 kämen überforderte Patienten in seine Praxis, erzählt der Psychotherapeut Winfrid Janisch und spricht von einer "skandalösen Versorgungslage", wegen knapper Kontingente und knausriger Kostenerstattung der Krankenkassen.

Hartes Ruhekissen

Für eine "Unterstellung" hält Christine Mayrhuber vom Wirtschaftsforschungsinstitut den Verdacht der freiwilligen Arbeitsflucht. Ihre Daten zeigen: Schon lange vor Pensionsantritt mussten Invaliditätsrentner öfter zum Arzt und konsumierten mehr Medikamente. Im Schnitt sterben sie mit 69,2 (Männer) und 70,9 Jahren (Frauen) - um elf Jahre früher als Alterspensionisten. 30 Prozent bezogen zuletzt Krankengeld, 40 Prozent Arbeitslose. Ein ebenso großer Anteil der Arbeiter in Invaliditätspension wurde laut einer Studie der Uni Linz gekündigt oder zum Abgang gedrängt, als ihre gesundheitlichen Probleme aufflogen. Überdies ist das angebliche Ruhekissen hart: Männer beziehen durchschnittlich 1077 Euro, Frauen 699 Euro im Monat.

Die Skeptiker relativieren diese Zahlen. Die niedrige Lebenserwartung der aktuellen Pensionisten müsse nicht auf die neue Generation der mental Gehandicapten zutreffen - außerdem führe Inaktivität erst recht zu Verfall.

Natürlich versuchten Betriebe mitunter, alte und teure Bedienstete loszuwerden, sagt PVA-Chef Pinggera: "Aber oft gehen Arbeitnehmer und Arbeitgeber Hand in Hand." Egal, ob eine Firma wirtschaftlich oder ein Angestellter gesundheitlich angeschlagen sei: "Sobald ein Problem auftaucht, sehen beide Seiten in der Frühpension die Lösung - auch über den Umweg der Arbeitslosigkeit."

Regierung und PVA wollen diesen Pfad versperren. Bevor neuerdings eine Invaliditätspension genehmigt wird, muss eine berufliche Rehabilitation versucht werden. Die Mittel reichen von Umschulung über Versetzung bis zu "banalen Dingen" (Pinggera) wie rückenschonenden Sesseln. Überdies laufen Früherkennungsprogramme in Betrieben an: Anhand der Häufung von Krankenständen sollen Probleme am Arbeitsplatz rechtzeitig erkannt werden.

Blechen für mehr Fairness

Erste Pilotprojekte, die der Kritiker Schuh "halbherzig" nennt. Er plädiert für eine Radikalreform. Weg mit der Invaliditätspension, dafür Schulungen und Fitnessprogramme, um die Oldies ohne Wenn und Aber am Arbeitsmarkt zu halten: "Derzeit sind sie Opfer eines System, das als einzigen Ausweg die Frühpension anbietet." Wer wirklich nicht mehr könne, bekäme eine Krankenleistung.

Der OECD-Experte Christopher Prinz wiederum empfiehlt einen Blick in die Niederlande, wo der Staat per Bonus-Malus-System Kosten auf die Betriebe abwälzt, um Fairness zu fördern. Arbeitgeber müssen nicht nur zwei lange Jahre Krankengeld berappen, sie zahlen auch für Invaliditätspensionen mit. Dafür solle der Berufsschutz fallen, der Arbeitnehmer vor dem Umsatteln bewahrt.

Neustart am Arbeitsmarkt statt Frühpension? Was Experten forcieren, empfindet so mancher Betroffene jetzt schon als Gängelung. Ein 47-Jähriger Ex-Bauarbeiter mit zertrümmerten Bandscheiben muss in der PVA wegen Verlängerung seiner befristeten Invaliditätspension vorsprechen: "Dabei kann ich nicht einmal allein aufs Klo - ein Witz." Ein abgestürzter Dachdecker mit Schraube im Knie sagt: "Ich kann nicht hatschen, soll mich aber umschulen lassen. Das ist reine Schikane."

(Quelle: DER STANDARD, Printausgabe, 17.5.2011)

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