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Die Probleme der alternden Gesellschaft

Wenn wir unseren Anspruch auf Humanität nicht aufgeben wollen, müssen wir jetzt handeln!

Durch die steigende Lebenserwartung und die sinkenden Geburtenzahlen kommt es zu einer Entwicklung, die als gesellschaftliche Alterung bezeichnet wird. In einem Sozialsystem, in dem die Erwerbstätigen wesentliche Transfers zugunsten von Nichterwerbstätigen finanzieren, muss diese Entwicklung zu Finanzierungsproblemen führen. Sozialrechtliche Aspekte dieser Entwicklung werden dabei üblicherweise im Pensions- und im Pflegesystem gesehen; langsam werden aber auch weiter reichende Systemzusammenhänge erörtert.

Festzuhalten ist nämlich zunächst, dass beispielsweise steigende Produktivität, Hebung der Geburtenzahl, Verstärkung der Zuwanderung oder längeres Arbeiten im Alter den Effekten des gesellschaftlichen Alterns auf der tatsächlichen Ebene entgegenwirken können; umgekehrt können eine längere Ausbildungsphase, längere Krankenstände, höhere Arbeitslosigkeit oder frühzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die sozialrechtlichen Effekte gesellschaftlichen Alterns verstärken.

Festzuhalten ist aber auch, dass diese Entwicklungen in erheblichem Maß von der Gestaltung rechtlicher Regelungen abhängen: Von sozialrechtlichen Regelungen im engen Sinn hängen etwa der Zeitpunkt der Pensionierung im Regelfall, die Inanspruchnahme von Invaliditätspensionen ab; unmittelbar sozialrechtliche Anreize wirken sich auch auf die Kinderzahl und die Beschäftigtenzahl aus. Von enormer Bedeutung für die Stabilität des Sozialsystems sind freilich auch:
die Bildungspolitik und die Integrationspolitik, weil diese großen Einfluss auf die Produktivitätsentwicklung und die Wanderungssalden haben,
die Familienpolitik und die Politik der Gleichstellung von Männern und Frauen, weil diese enormen Einfluss auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Kinderzahl haben;
die Gestaltung der Gehaltssysteme in den Kollektivverträgen, die Vermeidung systemischer Überstunden in den Betrieben und die Arbeitszeitflexibilisierung, weil diese erheblichen Einfluss auf die Beschäftigung insbesondere Älterer haben.

Dass hier komplexe Zusammenhänge im Sozialsystem bestehen, darf in einem hoch entwickelten Sozialstaat nicht verwundern; verwundern darf eher, dass bislang wesentliche Antworten auf die gesellschaftliche Alterung noch ausstehen, ja manche politischen Kräfte sogar stolz darauf sind, Antworten zu verweigern: Systemstabilisierende Langfristeffekte der Pensionsreformen 2003 wurden wieder rückgängig gemacht; vorzeitige Pensionierung durch die Verlängerung der Hacklerregelung forciert; die Lösung der Pflegeproblematik wurde durch die Förderung von Scheinselbstständigkeit in der 24-Stunden-Betreuung verschoben; Familienpolitik und Gleichstellungspolitik werden zu oft gegeneinander ausgespielt anstatt koordiniert; nachhaltige Immigrations- und Integrationspolitik gehen im Alltagsstreit um „die Ausländer“ unter; die Neugestaltung kollektivvertraglicher Gehaltssysteme geht wie die Reduktion von Überstunden und Arbeitszeitflexibilisierung zu langsam voran; in der Bildungspolitik werden entscheidende Fragen seit Jahren als heiße Kartoffeln herumgereicht, und so weiter.

Klientelpolitik

Unübersehbar ist, dass der Wunsch, an bestimmte Klientelen Botschaften zu senden und dem jeweiligen „Partner“ eins auszuwischen, über langfristige Sachorientierung triumphiert.

Es wäre freilich zu billig, wollte man dafür schlechthin „die Politik“ oder gar „die Politiker“ verantwortlich machen.

Zwar sind natürlich zunächst Politiker verantwortlich, die dem Bürger einfache Rezepte verkaufen und sich der Komplexität verweigern: Fehler in der Bildungspolitik und in der Arbeitsmarktpolitik kann man aber langfristig nicht durch pensionsrechtliche Regelungen kompensieren; Fehler in der Migrations- und Integrationspolitik bewirken, dass diese Bereiche zusätzliche sozialpolitische Probleme aufwerfen; Fehler in der Familienpolitik und in der Gleichstellungspolitik verschärfen Probleme und können nicht kurzfristig korrigiert werden.

In der Demokratie haben allerdings primär die Bürger zu verantworten, dass sich Politiker in Österreich nicht mehr trauen, vor Wahlen grundlegende Weichenstellungen anzusprechen: Wer auf „wohlerworbene Rechte“ pocht, sich Änderungen verschließt und „Denkzettel“ verteilt, darf sich nicht wundern, wenn sich Politiker im Festhalten am Bestehenden profilieren!

An einer besonderen Schnittstelle zwischen Bürger und Staat sind freilich auch die Selbstverwaltungskörper in Verantwortung zu sehen: Begreifen sie sich nur als Vertreter ihrer Mitglieder oder auch als Teile der Staatsorganisation, die die Interessen nachhaltiger Systemstabilität über kurzfristige Gruppeninteressen stellen?

Verantwortung kommt schließlich auch allen Informationsvermittlern zu: Gelingt es, komplexe Zusammenhänge klarzumachen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern oder werden unsolidarische Emotionen geschürt?

Vereinte Anstrengungen zur sozialrechtlichen Bewältigung der gesellschaftlichen Alterung sind freilich unabdingbar, wenn wir den Anspruch auf Humanität nicht aufgeben wollen! Auch im Interesse der heute gestaltenden Generation: Wenn es nicht gelingt, diese Fragen nachhaltig zu lösen, laufen wir Gefahr, dass die kommende Generation uns selbst im Stich lässt!

Zum Thema der alternden Gesellschaft referiert der Autor bei dem heute Abend beginnenden Sommerdiskurs der Sommerhochschule der Universität Wien in Strobl am Wolfgangsee, dessen Medienpartner „Die Presse“ ist.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mazal (geboren am 9.Dezember 1959 in Wien) ist Arbeits-, Sozial- und Medizinrechtler an der Universität Wien.

(Quelle: Die Presse, Print-Ausgabe 04.08.2010)

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